„Denn alles Irdische verhallt …“
Ulrike Shepherd
Künstlerin und Kuratorin, artsprogram, Zeppelin Universität, Friedrichshafen
Inspirationsquelle und Ausgangssituation für Susanne Allgaiers Ausstellung „Denn alles Irdische verhallt …“ war die sehr besondere Raumqualität der Galluskappelle Winterberg. In dem auf ein Zentrum ausgerichteten Rundbau positionierte sie als Antwort darauf 4 Objekte, die zusammen einen Mehrklang ergeben und auf den Raum reagieren.
Die Einzelobjekte haben in der für den Ort konzipierten Ausstellung ihre eigenständige Bedeutung, zugleich stehen sie aber auch in einer Beziehung zueinander, die einen Zusammenhang erzeugt, der zwischen den Dingen schwingt.
Wie es im Titel der Ausstellung schon anklingt, geht es in dem Zusammenspiel der Objekte und Bilder um das große Thema des „Werden und Vergehen“. Während der Titel hier jedoch bereits endet und mit dem Verhallen alles offen lässt, schließen die Objekte daran an und gehen mit ihrer plastischen Realität darüber hinaus. Es geht also auch um die Wiederkehr.
Welche Bilder hat nun Susanne Allgaier dafür gefunden und in den sakralen Raum eingebracht? Und mit welchen Materialien und Formen ist sie den eben genannten Grundmotiven nachgegangen?
Als zentrales Objekt der Ausstellung, doch dezentral platziert, lässt Allgaier ein zeltartig ausgespanntes Kleid über dem Boden schweben, das mit seinem zarten Gewebe seinen eigenen Raum beansprucht. Das Netzwerk umreißt in seiner urbildhaften Form eines Gewandes „Körperlichkeit“ – und verweist gleichzeitig sehr behutsam auf deren Abwesenheit. War das Gewebe zuvor Gefängnis der abwesenden Leiblichkeit oder ihre schützende Hülle?
Das Gewand erinnert an Zeiten, als Kleidung noch Traditionen und Lebensrhythmen abbildete und formte, so wie es Marie Louise Kaschnitz in ihrem Gedicht „Genazzano“ beschrieb:
Genazzano am Abend
Winterlich
Gläsernes Klappern
Der Eselshufe
Steil auf die Bergstadt.
Hier stand ich am Brunnen
Hier wusch ich mein Brauthemd
Hier wusch ich mein Totenhemd.
Das Kleid ist beides, Braut- und Totenhemd und darüber hinaus anschlussfähig an viele weitere Assoziationen.
Aus gedrehter Hanfschnur, wärmender Schurwolle und getrockneten Getreidekeimlingen lose verknotet, verstrickt und verwoben,
hat es auch die Anmutung einer geöffneten Samenkapsel, deren Samen jederzeit vom Wind weit weggetragen werden könnten.
Die verwendeten Naturmaterialien erscheinen in ihrer einfachen Materialsprache als zeitlose Repräsentanten agrarischer Kulturen,
für die ein Wissen über die Naturvorgänge von essentieller Bedeutung war und ist und die mit der wiederkehrenden Erfahrung der Jahreszyklen und der Fruchtbarkeit der Vegetation leben.
Als Gegenpol zu dieser flüchtigen Transparenz hängt in der Höhe als zweites Objekt eine aus Eisen geschmiedete Glocke. Sie ist stumm, trägt jedoch das latente Potential zum Klang in sich. Erst durch das Anschlagen gibt ihre schwere, verdichtete Materie den Klang frei, ansonsten fügt sie sich in die Stille des Raumes.
Auch die Glocke ist ein Gegenstand, der eine weit zurückreichende Kulturgeschichte in sich trägt. Als „Maßeinheit für die Zeit“ strukturierte und rhythmisierte sie das Leben vieler und tut dies bis in die Gegenwart. Hier in der Kirche scheint die Skulptur am richtigen Ort. Doch tritt sie in der Ausstellung nicht nur stellvertretend für alle Glocken auf, sondern hat als erst kürzlich entstandene Skulptur eine eigene ästhetische Geschichte und ihre spezifische Historie.
Sie war ursprünglich eine Weimarer Kanonenkugel aus dem Jahr 1760, die Susanne Allgaier zur Glocke umschmieden ließ. Den Prozess der Umwandlung dokumentierte sie und zeigt die schrittweise Transformation der Form, und damit auch der Funktion, mittels der Wandprojektionen.
Der Abfall aus dem Schmiedevorgang, die anfallenden Aschen, wurden von Allgaier gesammelt und im einzigen Wandbild konserviert. Sie tauchen in dem semitransparenten Trägerstoff aus Knochenleim in schattenhafter Kugelform auf. Dem wertlos erscheinenden Abfallprodukt wurde von der Künstlerin Beachtung geschenkt und Bedeutung verliehen, so dass die Aschen im Bild eine Auferstehung haben.
An das Motiv der Verwandlung erinnern auch die im Zentrum des Raumes verorteten Bälle aus getrockneten Gerstenkeimlingen. Wie die aus der Kanonenkugel hervorgegangene Glocke, so haben auch die Getreideballen ihre künstlerische Entwicklungsgeschichte. Sie sind die Weiterführung von Susanne Allgaiers letzter Ausstellung.
Für ihren Beitrag zu der vorweihnachtlichen Krippenausstellung in einer Leutkircher Brauerei übersetzte sie das Thema der „Geburt“ in das Aufkeimen von Saat und inszenierte in einem Brauereibottich ein Feldstück aus Gerstenkeimlingen. Damit jedoch die Saat zur rechten Zeit aufkeimte und zur Ausstellung einen leuchtend grünen Teppich bildete, gingen der künstlerischen Arbeit Recherchen zum Saatgut voraus und fanden verschiedenste Experimente statt.
Und auch im Anschluss an die damalige Ausstellung wurden die vertrockneten Rückstände weiter gewürdigt, in anderen Umgebungen dokumentiert, eingefroren oder geformt und werden heute im neuen Kontext präsentiert.
Die Begeisterung für ein solches Initiieren von Situationen und Entwicklungen nach vorausgehender Recherche, die Neugier auf, das, was daraus entsteht oder sich auch zufällig ergibt und das sich Überraschen lassen, ist charakteristisch für Allgeiers Haltung. Ihr Ansatz, die Anordnungen auf das Wesentliche zu reduzieren, der auch in dieser Ausstellung tragend ist,
schafft durch die Konzentration auf Weniges umso mehr Raum für Erfahrungen und ein Angebot zur Entschleunigung neben der Autobahn.
Wenn sich die Fragestellungen der Ausstellung zu „Prozessen, Entwicklungen, Verwandlungen, Absterben und Wiederkehr“ mit dem heutigen Palmsonntag und den österlichen Themen verbinden – und manches Gezeigte seinen Ausgangspunkt in der Krippenausstellung hatte, so ereignen sich solche Verbindungen eher von selbst, wenn man sich Themen künstlerisch intensiv widmet.
Die Nähe der Ausstellung zu den christlichen Jahresfesten entstand aus einer Entsprechung, welche die biblischen Bilder und das künstlerische Anliegen in Bezug auf die Einbeziehung des Jahreskreislaufs gemein haben.
Das spezifische Angebot, das die bildende Kunst hier macht, ist die sinnliche Erfahrung: die Kanonenkugel musste real geschmolzen werden, bevor die Glocke daraus entstehen konnte und diese kommt erst zum Klingen, wenn ihre Materie entsprechend plastisch geformt ist, wiederum braucht es das handelnde Anstoßen der Materie, damit aus dem Sichtbaren und Fühlbaren – Hörbares entsteht
Wenn also nach Konfuzius, Glocken Himmel und Erde verbinden,
so ist dies auch ein Anliegen der hier gezeigten Kunst von SA.
Und ein weiteres Sprichwort fällt mir dazu ein; ich denke, es ist katalanisch:
Man muss fest auf dem Boden aufspringen, damit man weit in den Himmel fliegen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!